Es gibt unglaublich viele „Gesundheits“-Websites in den Weiten des Internets. Sie haben Tipps, wie wir alle gesünder leben, Krankheiten vermeiden und schon vorhandene Gebrechen heilen können. Leider nehmen es viele davon mit der Seriosität nicht allzu ernst, oder werfen bei ihren Empfehlungen gar alle wissenschaftlichen Erkenntnisse über Bord. Daher werden wir uns im zweiten Teil der Reihe Gute Studien – Schlechte Studien am Beispiel der Anthocyane anschauen, wie Studien unseriös interpretiert werden.

Wenn man bei Google nach Anthocyanen sucht, stößt man beispielsweise auf die Seite Zentrum der Gesundheit, und die Überschrift des Artikels „Anthocyane: Schutz vor Krankheiten“ zeigt uns direkt, wo die Reise hingeht. Anthocyane sollen uns vor entzündlichen Erkrankungen, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Übergewicht, Diabetes und Alzheimer schützen. Um diese (doch sehr beeindruckenden) Behauptungen zu belegen, werden diverse Studien herangezogen. Drei dieser Studien sind von Mizgier et al., Lee et al. und Podsędek et al. und sollen laut Zentrum der Gesundheit aussagen, dass „Anthocyane in der Lage sind, chronische Entzündungen zu lindern“,  ohne Nebenwirkungen gegen Arthritis, Diabetes und Arteriosklerose wirken und eine „wunderbare Alternative zu entzündungshemmenden Medikamenten darstellen“. (Und als Faustregel: immer, wenn etwas eine Alternative ohne Nebenwirkungen zu Arzneimitteln gegen ernsthafte Krankheiten sein soll, sollte man sehr schnell sehr skeptisch werden.)

Was sind Anthocyane?

Bevor wir uns diese Paper aber genauer anschauen, möchte ich euch einen Überblick geben, was Anthocyane sind.

Bei Anthocyanen handelt es sich um pflanzliche Sekundärstoffwechselprodukte. Als Sekundärstoffwechsel bezeichnet man die Stoffwechselwege, die nicht direkt lebenswichtig sind. Direkt lebenswichtig sind dabei z.B. der Energiestoffwechsel (also aus Essen Energie zu machen, die für Zellen nutzbar ist) oder auch der Aminosäurestoffwechsel (aus denen Proteine aufgebaut sind). Nicht direkt lebenswichtig sind dagegen Dinge wie Toxine, Duftstoffe oder Farbstoffe. Und genau das sind auch die Anthocyane: pflanzliche Farbstoffe.

Strukturformel von Cyanidin-3-O-glucosid, ein Anthocyan

Wenn wir ein bisschen chemischer werden, gehören die Anthocyane zur Stoffgruppe der Flavonoide und bestehen aus zwei Teilen: Einem Anthocyanidin-Teil mit drei aromatischen (die chemische Eigenschaft, nicht der Geschmack!) Ringen und einem positiv geladenen Sauerstoff.

Diesen Anthocyanidin-Teil allein bezeichnet man als Aglykon, da hier Zuckermoleküle als zweiter Teil fehlen. Dabei kommen verschiedene Zucker vor, die das ganze Molekül dann besser wasserlöslich und stabiler machen.

Violette Karotten gegen Entzündungen?

Ok, jetzt da wir die Chemie abgehakt haben, können wir uns auf die Studien stürzen, die Zentrum der Gesundheit als Quellen nennt.

Das erste Paper von Mizgier et al. erschien 2016 und heißt „Characterization of phenolic compounds and antioxidant and anti-inflammatory properties of red cabbage and purple carrot extracts”. Die Autor:innen charakterisieren darin erstmal diverse Inhaltsstoffe (Anthocyane und Hydroxyzimtsäurederivate) in Rotkohl und violetten Karotten. Das nimmt dann tatsächlich auch den größten Teil des Inhalts ein. Aber die Autor:innen bestimmen auch, wie gut sich die Extrakte der beiden Gemüse als Antioxidans eignen. Dafür sind Anthocyane tatsächlich bekannt, und auch die Extrakte in dem Paper zeigen antioxidative Effekte.

Laut Zentrum der Gesundheit soll diese Studie aber belegen, dass Anthocyane chronische Entzündungen lindern könnten. Ist da etwas dran? Das Paper hat einen kurzen Abschnitt zu antientzündlichen Effekten. Und zwar wurde getestet, ob die Extrakte von Rotkohl und violetter Karotte in der Lage sind, die Enzyme COX1 und COX2 zu hemmen, die an Entzündungsreaktionen beteiligt sind. Das Ergebnis ist, dass beide Extrakte tatsächlich einen hemmenden Effekt auf diese Enzyme hatten. Aber, und das ist ein ganz dickes Aber, das heißt erstmal noch gar nichts: Erstens wurde das ganze nur in vitro, also „im Reagenzglas“ getestet. Ob der Effekt dann auch im Menschen auftritt, lässt sich daraus nicht ableiten und erst Recht nicht, ob dadurch chronische Entzündungen gelindert werden könnten. Zweitens sind die Daten ganz schön dünn. Normalerweise, wenn man eine Enzymhemmung bestimmt, testet man verschiedene Konzentrationen, nimmt sogenannte Dose-Response-Kurven auf und gibt u.a. einen IC50-Wert an (das ist dann die Konzentration an Hemmstoff, die 50 % der maximalen Hemmung verursacht). Das alles ist hier nicht passiert. Stattdessen wurde überhaupt nur eine einzige Konzentration getestet. Viertens ist diese Konzentration so hoch, dass im Prinzip nicht ausgeschlossen werden kann, dass die COX-Hemmung durch unspezifische Effekte verursacht wird. (Die Proben hatten eine Anthocyan-Konzentration von 8 µg/mL. Je nach Molekül variiert die molare Konzentration natürlich, aber bei Cyanidin-3,5-di-O-glucosid zum Bespiel entspricht das 13 µM). Und fünftens und fast am wichtigsten: Es wurden die kompletten Extrakte verwendet. Niemand kann sagen, ob die COX-Hemmung tatsächlich durch die Anthocyane verursacht wird und nicht durch ganz andere Inhaltsstoffe.

Auf die Idee, dieses Paper könne zeigen, dass Anthocyane chronische Entzündungen lindern könnten, kann man also allerhöchstens kommen, wenn man das Paper gar nicht gelesen hat.

Completely Unrelated

Wieso das zweite Paper, „Inhibitory potential of red cabbage against digestive enzymes linked to obesity and type 2 diabetes” von Podsędek et al. als Quelle angegeben wird, kann ich mir ehrlich gesagt nicht erklären. „Chronische Entzündungsprozesse sind oft Vorläufer chronischer Krankheiten wie Arthritis, Neurodermitis, Diabetes Typ 2, Arteriosklerose sowie Herz- oder Darmkrankheiten“. Dafür wird dieses Paper als Quelle angegeben. Und das stimmt zwar so ungefähr (zumindest sind manche davon entzündliche Erkrankungen), aber davon steht nichts in dem Paper. Die Schlussfolgerung daraus soll nun sein (oder so wird zumindest suggeriert), dass Anthocyane gegen diese chronischen Erkrankungen wirken sollen. Aber auch davon ist in der angegebenen Quelle nie die Rede!

Rotkohl hat einen hohen Gehalt an Anthocyanen (Bild: Bild von Manfred Richter auf Pixabay)

Worum es darin tatsächlich geht ist die Hemmung von Verdauungsenzymen, mit dem Ziel, dass Meschen mit Diabetes oder starkem Übergewicht weniger Fette und Kohlenhydrate aus der Nahrung aufnehmen. Und das mag zwar interessant sein, hat aber rein gar nichts mit dem Text von Zentrum der Gesundheit zu tun, und wurde auch diesmal – ihr ahnt es vielleicht schon – nur in vitro gemessen.

In vivo – aber trotzdem irrelevant

Und auch bei der dritten Quelle („Dietary Anthocyanins against Obesity and Inflammation“ von Lee et al.) ist der Fall ähnlich gelagert. Es ist ein Review, also keine eigene Forschungsarbeit, sondern eine Zusammenfassung der aktuellen Literatur zu einem Thema. Betrachtet wurde hier die Wirkung von Anthocyanen auf chronische Entzündungen, die durch starkes Übergewicht entstehen. Tatsächlich sind hier das erste Mal auch in vivo Studien mit eingeschlossen.

Ich habe mir diese Studien jetzt nicht genauer angeschaut. Auf den ersten Blick ist mir allerdings eine Sache aufgefallen: In diesen Tier- und auch klinischen Studien gab es fast nie wirklich klinische Endpunkte. Das heißt, die Auswirkung auf die entsprechende Krankheit wurde nicht direkt untersucht. Stattdessen wurden Surrogatendpunkte verwendet, also Laborwerte, die dann nur indirekt Rückschlüsse auf die untersuchte Krankheit zulassen.

Aber im Prinzip ist das auch egal. Denn dieses Paper soll als Quelle für die Aussage dienen, dass Anthocyane eine „wunderbare Alternative zu entzündungshemmenden Medikamenten darstellen“. Und das steht da nicht drin! Genauso wenig kann man das aus diesen Daten schlussfolgern. Das ist leider einfach Quatsch.

Und sind Anthocyane jetzt Allheilmittel?

Was schlussfolgern wir daraus jetzt? Dass Anthocyane Wundermittel gegen viele Krankheiten sind?

Das sicherlich nicht. Es gibt eine Menge Studien da draußen, die Gesundheitseffekte von Anthocyanen untersuchen. Viele davon sind aber nur in vitro-Untersuchungen, verwenden unrealistisch hohe Anthocyan-Konzentrationen oder betrachten nur ganze Extrakte, so dass nicht garantiert werden kann, dass der Effekt tatsächlich durch die Anthocyane verursacht wird. Oder schlimmstenfalls eben alles davon auf einmal.

Und ein Problem muss ich auch noch ansprechen: Anthocyane haben eine sehr geringe Bioverfügbarkeit. Das bedeutet, dass nur ein Bruchteil der Anthocyane in eurer Nahrung überhaupt in eurem Blutkreislauf ankommen.

Tatsächlich hat Zentrum der Gesundheit auch dafür eine Antwort parat (oder besser gesagt zwei Antworten): Es sind nicht die Anthocyane selbst, die diese Effekte haben, sondern deren Metabolite. Und die unterliegen einem enterohepatischen Kreislauf (d.h. eigentlich nur, dass sie zwar über die Galle in den Darm ausgeschieden, aber dann im Darm auch wieder resorbiert werden). Die Quellen, die dafür angegeben werden, sind übrigens ähnlich fragwürdig wie alle anderen. In einer der Quellen steht sogar wörtlich: „Ob die im Körper erreichten Konzentrationen jedoch für eine systemische Wirkung ausreichen, muss bezweifelt werden.“

Ich bin natürlich nicht der Richtige, um die Wirkung von Anthocyanen abschließend zu klären. Eine ausgewogene Ernährung, zu der auch Anthocyan-reiches Gemüse und Obst gehören, ist natürlich gesund. Aber dass Anthocyane lebenswichtige Medikamente ersetzen oder sogar Krebs heilen könnten, wie es auf manchen Gesundheits-Websites suggeriert wird, ist auf jeden Fall falsch. Und wissenschaftliche Studien (absichtlich oder unabsichtlich) falsch zu interpretieren, um die eigenen Behauptungen zu belegen, ist unwissenschaftlich und unethisch.

Falls euch der Artikel gefallen hat, geht es hier zum vorherigen Teil der Reihe “Gute Studien, schlechte Studien” über angebliche Nachweise über die Wirkung von Homöopathie.