Viele Arzneistoffe funktionieren nach dem gleichen Prinzip. Der Wirkstoff bindet an ein Enzym und hemmt es. Zum Beispiel Ibuprofen, das an das Enzym COX bindet und seine Funktion hemmt. Denn COX produziert normalerweise entzündungsfördernde Stoffe, was durch Ibuprofen dann verhindert wird. Das ist ein lang erprobtes und sehr erfolgreiches Prinzip. Aber es hat auch Schwächen und Limitation, und um die zu überwinden, braucht es Arzneistoffe, die nach einem neuen Prinzip funktionieren. 2001 wurde eine solche Gruppe von Arzneistoffen entdeckt, die seither in der Arzneistoffentwicklung immer beliebter wird: die PROTACs.

In diesem Text geht es um diese neue Gruppe von Arzneistoffen. Darum, was PROTACs so anders macht, was sie besser können als andere Stoffe, und welche Probleme vielleicht noch überwunden werden müssen.

Was sind PROTACs?

PROTAC steht für PROteolysis Targeting Chimera, und in diesem Namen steckt schon sehr viel von dem was PROTACs tun: Proteolyse bezeichnet den Abbau von Proteinen. Es gibt viele unterschiedliche Gründe, weshalb Proteine in einer Zelle abgebaut werden sollten. Daher ist es auch nicht überraschend, dass es dafür eine eigene Maschinerie in der Zelle gibt, das Proteasom. Aber woher weiß das Proteasom, welche Proteine nicht mehr gebraucht werden? Die Proteine, die im Proteasom abgebaut werden sollen, sind dafür mit Ubiquitin markiert, dem Signal zum Abbau.

Struktur des menschlichen 20S Proteasoms (Toste Rego et.al., Mol Cell, 2019)

Durch die Ubiquitinierung (die Verknüpfung eines Protein mit Ubiquitin) weiß das Proteasom also, dass eben dieses ubiquitinierte Protein abgebaut werden soll. Aber wie kommt das Ubiquitin an dieses Protein? Das geschieht nicht einfach so, sondern durch Enzyme: E1, E2 und E3 (und ja, wie die meisten Enzyme haben die eigentlich längere und kompliziertere Namen, aber das soll uns jetzt egal sein).

Genau an dieser Stelle setzen die PROTACs an: Denn sie sorgen dafür, dass ein bestimmtes Protein durch diese Enzyme ubiquitiniert und damit für den Abbau markiert wird. Wenn wir das mit „normalen“ Arzneistoffen vergleichen, wird der unterschied sehr deutlich: Ein „normaler“ Arzneistoff hemmt ein Enzym oder einen Rezeptor, das oder der dann nicht mehr richtig arbeiten kann. Ein PROTAC sorgt nicht dafür, dass sein Zielprotein (sein Target) nicht mehr richtig funktioniert, sondern stattdessen direkt komplett abgebaut wird und deshalb seine Funktion nicht mehr erfüllen kann.

Bevor wir uns anschauen, was das für Vorteile hat und wieso PROTACs gerade so beliebt sind, müssen wir aber erst einmal verstehen, wie sie funktionieren. Und dafür müssen wir uns genauer mit ihrer Chemie beschäftigen.

Die Chemie der PROTACs

PROTACs bestehen aus drei Teilen: Einem Teil, der an das Zielprotein bindet, einem Teil, der an das E3-Enzym bindet, und einem Linker, der die beiden anderen Teile miteinander verbindet. Sie sind also bifunktional, weil sie an zwei Proteine gleichzeitig binden können.

Für die Interaktion mit E3 gibt es natürlich verschiedene Möglichkeiten. Zum Beispiel kann der E3 Ligand entweder ein Peptid sein (also aus Aminosäuren aufgebaut) oder auch ein small molecule. Und auch die Wahl des richtigen Linkers ist nicht so einfach. Wie lang muss der Linker sein? Wie flexibel muss er sein? Wo muss er an den anderen Teilen befestigt sein? Und wie stört er die Bindung an das Target und an E3 nicht? Letztendlich gilt es dann noch, den richtigen Liganden für das Zielprotein auszuwählen. Wir schauen uns das mal am Beispiel des Stoffes SK-575 an:

SK-575 sorgt für den Abbau des Enzyms PARP1, das DNA-Brüche repariert und dessen Hemmung in der Krebstherapie ausgenutzt wird. Der PARP1-bindende Teil ist Olaparib, ein Stoff, der auch allein PARP1 hemmen kann und deshalb vorher schon als Arzneistoff verwendet wurde. Der Linker ist dann eine ziemliche unpolare Alkylkette (fast nur Kohlenstoff und Wasserstoff), an dem die beiden anderen Teile über zwei Amide befestigt sind. Der E3-bindende Teil von SK-575 ist Thalidomid, das bereits als Wirkstoff z.B. bei Lepra verwendet wird. Aber der eine oder die andere wird jetzt wohl aufhorchen. Denn Thalidomid ist der Wirkstoff in Contergan, das in den 50er und 60er Jahren den Contergan-Skandal ausgelöst hat.

Struktur von SK-575 (Cao et al., Chem. Soc. Rev. 2022)

Thalidomid wurde bis in die 60er Jahre in dem Schlafmittel Contergan verwendet, das hauptsächlich an Schwangere vermarktet wurde. Leider löste es bei den ungeborenen Kinder schwere Fehlbildungen aus. Es bindet nämlich an eine Untereinheit von E3, wodurch der Abbau von bestimmten Proteinen verhindert und die Entwicklung der Gliedmaßen gestört wird.

Aber eben genau diese Eigenschaft, an E3 binden zu können, macht Thalidomid für die PROTACs so interessant. Es macht es möglich, PROTACs herzustellen, die sehr effizient an E3 binden und gleichzeitig viele andere Eigenschaften aufweisen, die ein Arzneistoff haben muss (z.B. dass die PROTACs überhaupt in die Zellen gelangen können). Selbstverständlich erfolgt der arzneiliche Einsatz von Thalidomid (und der anderen IMiDs Lenalidomid und Pomalidomid) heutzutage unter strenger ärztlicher Überwachung und niemals bei Schwangeren.

Die Wirkungsweise der PROTACs

Wir wissen jetzt, dass PROTACs bifunktional sind und gleichzeitig das Zielprotein und E3 binden können. Das Gebilde aus Target, E3 und PROTAC wird als ternärer Komplex bezeichnet. In dem ternären Komplex sind sich das E3-Enzym und das Target nahe genug, damit E3 (zusammen mit E2) seine Arbeit machen kann: es ubiquitiniert das Zielprotein und markiert es dadurch für den Abbau durch das Proteasom.

Das Schicksal des Zielproteins ist also besiegelt. Die Peptidbindungen zwischen seinen Aminosäuren werden gespalten und das Protein wird zerstört. Die dabei freiwerdenden Aminosäuren und Peptidfragmente können dann zum Beispiel verwendet werden, um neue Proteine aufzubauen.

Der PROTAC und E3 werden allerdings nicht mit abgebaut. Sie dissoziieren wieder ab, werden also freigesetzt, und können sich dem nächsten Zielprotein widmen. Dort kann der PROTAC wieder binden, E3 rekrutieren und der ganze Prozess geht wieder von vorne los.

Mit der Zeit wird dadurch ein ziemlich großer Teil aller Zielproteine in der Zelle abgebaut. Das hat auf den ersten Blick betrachtet den gleichen Effekt wie ein klassischer Hemmstoff: Das Zielprotein kann sine Arbeit nicht mehr machen. Wenn wir beim Beispiel SK-575 und Olaparib bleiben, dann kann das Target PARP1 keine DNA-Brüche mehr reparieren, und die Krebszelle stirbt.

Aber auf den zweiten Blick gibt es einige wichtige Unterschiede zwischen den PROTACs und klassischen Hemmstoffen, die wir uns jetzt anschauen.

Was haben PROTACs, was die anderen nicht haben?

Einen entscheidenden Vorteil habe ich zumindest schon angerissen. Denn da PROTACs nach dem Abbau des Targets wieder freigesetzt werden, ist ihr Wirkmechanismus katalytisch. Das bedeutet, dass nicht ein Molekül Arzneistoff für jedes einzelne Zielprotein gebraucht wird, sondern dass ein PROTAC-Molekül potentiell unendlich (potentiell heißt hier, in der Realität natürlich nicht unendlich, aber zumindest viele) Zielproteine in den Abbau führen kann. Dadurch braucht man eine sehr geringe Konzentration an Arzneistoff, um einen Effekt zu erzielen. Das ist besonders praktisch, wenn dadurch die Dosis eines Arzneistoffs mit starken Nebenwirkungen verringert werden kann, oder bei Stoffen, die ansonsten zu giftig wären, um sie einsetzen zu können.

Ein weiterer, sehr großer Vorteil ist, dass es bei PROTACs egal ist, wo sie an ihr Target binden. Denn klassische Hemmstoffe haben da keine Wahl, es gibt an ihren Zielproteinen nur eine oder wenige Stellen, die sie binden können, um die Aktivität des Zielproteins zu verändern – entweder das aktive Zentrum oder eine allosterische Bindestelle. Weil PROTACs die Funktion ihres Zielproteins nicht direkt beeinflussen müssen, können sie auch buchstäblich überall daran binden. Das führt auch dazu, dass sogenannte undruggable targets adressiert werden können, die zum Beispiel gar kein aktives Zentrum haben.

Und dann gibt es noch ein paar weitere Beispiele. So können klassische Hemmstoffe auch oft wieder aus der Bindung mit dem Zielprotein verdrängt werden, wenn der endogene Ligand bindet (Stichwort kompetitive Hemmung). Bei PROTACs kann das natürlich nicht passieren, denn wenn das das Zielprotein einmal abgebaut ist, ist es halt weg. Und auch die Entwicklung von Resistenzen gegen einen Arzneistoff könnte bei PROTACs unter Umständen langsamer ablaufen.

Und wo ist der Haken?

Ich muss zugeben, dass „wo ist der Haken?“ eine ziemlich provokante Frage ist. Denn PROTACs sind ein sehr vielversprechender Ansatz in der Arzneistoffentwicklung, und es gibt (noch, zumindest) keinen wirklichen Haken dabei. Aber es gibt eben auch einige Nachteile und offene Fragen, die ich euch nicht verschweigen möchte.

Ein Problem könnte sein, dass das Zielprotein zwar abgebaut wird, sich der gewünschte Effekt aber trotzdem nicht einstellt. Es kommt nämlich vor, dass die Funktion des Zielproteins dann einfach von einem anderen Protein übernommen wird, und der PROTAC damit praktisch unwirksam wird (zumindest teilweise). Dazu kommt noch, dass extrem viele verschiedene Formen des E3-Enzyms existieren, aber die meisten PROTACs nur auf ein paar wenige beschränkt sind. Eine Herausforderung für die Entwicklung neuer Stoffe ist also, auch diese E3-Formen als Ansatzpunkt für PROTACs zu gewinnen. Außerdem sind PROTACs oft sehr groß (also in molekularem Maßstab) und häufig relativ instabil oder reaktiv. Das macht es zu einer Herausforderung, dass sie nach peroraler Einnahme auch im Blutkreislauf und dann am Wirkort ankommen.

Oder, wie dieser Preprint zeigt, kann der Abbau bestimmter Proteine auch unerwartete Effekte haben (Derek Lowe hat auch einen sehr guten Text darüber geschrieben). Denn beim Abbau entstehen Peptide, die wiederum die Apoptose, also den programmierten Zelltod, auslösen. Das kann von Vorteil sein, z.B. bei der Krebsbehandlung, wenn sowieso das Ziel ist, dass Tumorzellen absterben. Wenn die Zellen aber nicht sterben sollen, kann das ein ziemliches Problem darstellen.

Die Zukunft von PROTACs in der Arzneistoffentwicklung

So, wir haben jetzt eine ganze Menge über PROTACs gelernt. Da stellt sich die Frage, wie relevant sie weiterhin in der Arzneistoffentwicklung, und letztendlich auch im klinischen Alltag sein werden.

Ich bin nicht in der Arzneistoffentwicklung tätig und habe daher auch eher einen beschränkten Überblick über das Feld. Aber in den letzten Jahren ist die Zahl der Veröffentlichungen über PROTACs deutlich angestiegen, und ich denke, dass sich das Interesse an ihnen auch noch lange anhalten wird.

Natürlich werden auch die traditionellen Hemmstoffe weiter ihren Platz in der Arzneistoff-Landschaft haben, aber das PROTAC-Prinzip scheint gut geeignet, um einige ihrer Limitationen zu überwinden. Ich denke daher, dass wir bald schon PROTACs auch in der klinischen Anwendung sehen werden.

Wenn ihr euch mehr einlesen wollt, kann ich dieses Review von 2022 empfehlen, und außerdem dieses wirklich sehr ausführliche Review, auf die ich auch diesen Text hauptsächlich gestützt habe.

Wenn euch dieser Beitrag gefallen hat, dann abonniert doch gerne auch meinen Newsletter, damit ihr nichts mehr verpasst (am Desktop direkt auf der rechten Seite und am Handy ganz unten in der Fußzeile). Oder schaut doch auch mal in meinen letzten Text über Ribosomen rein.