Fliegenpilze sind DAS Paradebeispiel, was Giftpilze angeht. Der rote Hut mit den weißen Punkten ist ikonisch, und jedes Kind weiß, dass man Fliegenpilze nicht essen sollte. In diesem Beitrag schauen wir uns gemeinsam das Gift des Fliegenpilzes etwas genauer an. Aus welchen Stoffen das Gift besteht, wie es gebildet wird, und wie es wirkt.
Der wissenschaftliche Name des Fliegenpilzes lautet Amanita muscaria. Er wächst in Nadelwäldern ebenso wie in Laubwälder, vor allem zwischen Juli und Oktober. Besonders häufig ist er wohl in der Nähe von Birken. Außerdem ist er der Pilz des Jahres 2022 (falls das irgendjemanden interessiert).
Ibotensäure und Muscimol: Das Gift des Fliegenpilzes
Sein Gift besteht hauptsächlich aus dem Inhaltsstoff Ibotensäure. Ibotensäure ist allerdings nicht sonderlich stabil, und bei der „Zubereitung“ zerfällt es zu der noch potenteren Substanz Muscimol. Außerdem enthält der Pilz in geringen Mengen auch Muscarin. Das ist zwar nach Amanita muscaria benannt, spielt für die Giftwirkung beim Fliegenpilz aber eigentlich keine Rolle.
Bei Ibotensäure handelt es sich um eine nicht proteinogene Aminosäure. Aminosäuren sind im Allgemeinen als die Grundbausteine von Proteinen bekannt. Aber tatsächlich werden nur 20 (naja, eigentlich ja 22) davon für den Aufbau von Proteinen eingesetzt. Und die restlichen, die nicht in Proteinen vorkommen, werden eben als nicht proteinogen bezeichnet.
Muscimol entsteht wie schon gesagt aus Ibotensäure. Dementsprechend ähnlich ist auch die chemische Struktur, aber es handelt sich nicht mehr um eine Aminosäure. Die Reaktion, bei der Muscimol aus Ibotensäure entsteht, wird als Decarboxylierung bezeichnet, da hier eine Carbonsäure genannte funktionelle Gruppe verloren geht.
Erstaunlicherweise wurde die Biosynthese von Ibotensäure erst vor kurzem aufgeklärt, tatsächlich von einem ehemaligen Professor von mir, und seiner Gruppe. Dabei ist die Existenz von Ibotensäure sowie ihre chemische Struktur schon seit Jahrzehnten bekannt. Fast genauso lange wurde auch schon gemutmaßt, dass Ibotensäure aus einer der beiden proteinogenen Aminosäuren Glutaminsäure oder Glutamin gebildet wird. Aber erst in diesem Paper von 2020 konnte bestätigt werden, dass die Ausgangssubstanz wirklich Glutaminsäure ist.
Aber wie genau stellt der Fliegenpilz jetzt Ibotensäure her? Vermutlich (ganz genau ist das noch nicht bekannt) geschieht die Biosynthese aus Glutaminsäure in fünf Schritten, die jeweils von einem anderen Enzym katalysiert werden. Dabei wird aus der Carbonsäure-Gruppe der Glutaminsäure der auffällige Ring der Ibotensäure (ein Isoxazolring, um genau zu sein) gebildet.
Wenn euch das jetzt noch zu vereinfacht war und ihr es genauer wissen wollt, kann ich euch diesen Artikel in Chemie in unserer Zeit empfehlen.
Die Wirkung des Giftes
Nachdem wir jetzt also geklärt haben, wie das Fliegenpilzgift hergestellt wird, können wir uns damit beschäftigen, wie es wirkt.
Nehmen wir einmal an, eine unwissende Person durch geht durch den Wald und findet bei ihrem Spaziergang einen lecker anmutenden roten Pilz mit kleinen weißen Pünktchen. Sie nimmt den Pilz mit nach Hause, bereitet sich ein Pilzragout daraus zu und isst es. Was wird diese Person daraufhin erleben?
Sie würde nach etwa 30 Minuten bis 2 Stunden die ersten Symptome spüren. Sie könnte sich verwirrt fühlen, die Wahrnehmung von Zeit könnte beeinträchtigt sein und sie könnte eine Hypersensitivität gegenüber visuellen und akustischen Reizen entwickeln. All das würde von Müdigkeit und einem sehr trockenen Mund begleitet sein, wahrscheinlich auch von Übelkeit und Erbrechen. Nach einiger Zeit würde wohl die Müdigkeit zunehmen, bis die Person in einen tiefen Schlaf mit sehr lebhaften Träumen fällt.
Der Grund für all das „könnte“ und „würde wahrscheinlich“ ist, dass die Symptome einer Vergiftung sehr verschieden sein können. Das korreliert stark mit dem variablen Gehalt an Ibotensäure in den Pilzen, der sehr unterschiedlich sein kann. Welche Vergiftungserscheinungen auftreten, und wie stark, hängt aber auch noch von vielen anderen Faktoren ab. Ob durch Fliegenpilze auch Halluzinationen entstehen können, ist in der Literatur tatsächlich umstritten.
Die Vergiftungssymptome enden üblicherweise nach etwa 8 Stunden mit einer vollständigen Erholung. Damit ist eine Vergiftung mit Fliegenpilzen im Normalfall auch nicht tödlich. Interessant ist aber auf jeden Fall, dass es wohl einen Zusammenhang zwischen der Symptomatik und dem Zeitpunkt des Pflückens geben könnte. Es gibt Hinweise, dass Pilze, die im August gepflückt werde, eine stärker narkotische Wirkung haben, während Pilze aus dem September schlimmere Übelkeit verursachen.
Ibotensäure und Muscimol ahmen körpereigene Botenstoffe nach
Jetzt stellt sich aber natürlich die Frage, weshalb der Fliegenpilz giftig ist. Ja klar, er enthält Ibotensäure und Muscimol. Aber wie verursachen zwei so simple Moleküle diese Symptome?
Ibotensäure und Muscimol können quasi körpereigene Botenstoffe nachahmen. Sie binden an die gleichen Rezeptoren, und lösen damit die gleichen Effekte aus. Da es für den Körper damit aber aussieht, als seien plötzlich viel mehr dieser Botenstoffe vorhanden als normalerwiese, werden dadurch die normalen Körperfunktionen durcheinander gebracht.
Muscimol ähnelt dabei sehr dem Neurotransmitter GABA (das steht für γ-Hydroxybuttersäure). Ibotensäure hingegen gleicht der Aminosäure Glutamat, die auch als Neurotransmitter eine Rolle spielt. Neurotransmitter sind Botenstoffe, die Signale von einer Nervenzelle zur nächsten weiterleiten (oder zu einer Muskelzelle, oder diversen anderen Zellen, ihr wisst schon…).
Wie ahmen die Giftstoffe jetzt körpereigene Botenstoffe nach? Durch etwas, das sich Bio-Isosterie nennt. Das ist ein kompliziertes Wort für ein eigentlich gar nicht so kompliziertes Konzept. Es geht dabei darum, dass eigentlich sehr unterschiedliche chemische Strukturen ähnliche Eigenschaften besitzen können. Vor allem sind das sterische Eigenschaften, also quasi die Größe und Form der Struktur, und elektronische Eigenschaften, also die Ladung und die „Anordnung“ der Elektronen. Wenn diese Bedingungen zutreffen, können sich die unterschiedlichen chemischen Strukturen sehr ähnlich verhalten und die gleiche biologische Wirkung auslösen. Im Fall des Fliegenpilzgifts ist es vor allem der oben schon erwähnte Isoxazolring, der bio-isoster zu der Carbonsäure der Neurotransmitter ist.
Und jetzt nach all der Chemie noch ein kleiner Fun Fact: Weil Glutamat-Rezeptoren auch auf der Zunge vorkommen und maßgeblich an der Wahrnehmung des Geschmacks Umami beteiligt sind, hat Ibotensäure angeblich einen sehr starken Umami-Geschmack.