In diesem Text geht es um ein klassisch pharmazeutisches Thema: Die Lipinski Rule of Five. Diese Regel beschreibt Eigenschaften, auf die man bei der Suche nach neuen Arzneistoffen achten sollte – und vereinfacht damit diese sehr komplexe Aufgabe. Aber ist die Rule of Five überhaupt eine Regel, der man blind folgen sollte? Oder schafft man damit neue Probleme, weil man andere lösen möchte?

Die Rule of Five

Die Lipinski Rule of Five wurde (wer hätte es gedacht) von Christopher Lipinski zusammen mit seinen Kolleg:innen Ende der 90er Jahre in diesem Paper beschrieben. Seither hatte diese Regel einen großen Einfluss darauf, wie wir denken, dass ein Arzneistoff zu sein hat. Genauer gesagt, ein Arzneistoff zur oralen Anwendung. Denn das ist das große Thema hinter der Rule of Five: Kann ein Arzneistoff über den Verdauungstrakt – und hier vor allem im Darm – aufgenommen werden? Und können wir das irgendwie abschätzen, ohne aufwändige Experimente machen zu müssen?

Lipinski et al. beschrieben, dass sie das mit nur vier einfachen Informationen abschätzen können: (1) Eine relative Molekülmasse von unter 500, (2) nicht mehr als 5 Wasserstoffbrücken-Donatoren, (3) nicht mehr als 10 Wasserstoffbrücken-Akzeptoren und (4) ein logarithmischer Oktanol-Wasser-Verteilungskoeffizient unter 5. Der Name Rule of Five kommt daher, dass alle diese Zahlen (500, 5, 10, nochmal 5) Mehrfache von 5 sind.

Das hört sich erstmal ganz schön chemisch an (und für manche damit überhaupt nicht einladend), und auch wenn es im Kern sehr chemisch ist, ist es dennoch relativ intuitiv, wenn wir verstehen, wie oral angewendete Arzneistoffe aufgenommen werden.

Was Arzneistoffe zur oralen Anwendung brauchen

Arzneimittel zur oralen Anwendung sind extrem wichtig. Sie sind einfach, zuverlässig und schnell anzuwenden, und das ist entscheidend, um Anwendungsfehler zu verhindern und die Therapietreue bei Patient:innen sicherzustellen. Aber damit ein Arzneimittel oral angewendet werden kann, muss der enthaltene Arzneistoff irgendwie im Verdauungstrakt aufgenommen werden können. Dafür muss er einige Barrieren überwinden, die – etwas vereinfacht – aus den Zellmembranen der Darm- und Magenschleimhaut bestehen. Wenn ihr mehr darüber wissen wollt, lest doch gerne meinen Beitrag zur Pharmakokinetik (mein allererster Blogbeitrag übrigens).

Das Problem ist jetzt, dass der Arzneistoff dafür einen ziemlichen Balanceakt hinlegen muss. Denn der Magen- und Darminhalt besteht vor allem aus Wasser, und damit ein Arzneistoff resorbiert werden kann, muss er sich erst darin lösen. Danach muss er die Zellmembranen durchdringen, die sehr lipophil sind, wofür der Arzneistoff also eher fettlöslich sein sollte. Ein Arzneistoff muss also wasserlöslich genug sein, aber auch nicht zu wasserlöslich. Tatsächlich ist es klassischerweise am besten, wenn der Arzneistoff relativ klein und eher lipophil ist.

Wie ermöglichen jetzt unsere vier eher simplen Informationen, diesen komplexen Vorgang abzuschätzen?

Das Molekulargewicht ist ein Maß für, naja, die Größe des Arzneistoffs. Denn je größer er ist, desto schwerer soll es für ihn sein, Zellmembranen zu überwinden.

Wasserstoffbrücken sind Interaktionen des Arzneistoffs mit polaren Molekülen – in diesem Kontext also vor allem Wasser. Je mehr davon, desto schwerer wird es für den Arzneistoff, lipophile Membranen zu durchdringen. (Kurz gesagt: Durch den Gewinn an Bindungsenthalpie durch die H-Brücken ist es energetisch am günstigsten, wenn alle H-Brücken-Donatoren und -Akzeptoren abgesättigt sind, was innerhalb der Membran natürlich nicht möglich ist.)

Der Oktanol-Wasser-Verteilungskoeffizient beschreibt, welcher Teil eines Stoffes in einer unpolaren Oktanol-Phase zu finden ist, und welcher Teil in einer polaren Wasser-Phase. Damit sagt er etwas über die generelle Lipophilie aus. Ein oraler Arzneistoff sollte zwar eher lipophil sein, aber auch nicht zu sehr, daher sollte der logarithmische Verteilungskoeffizient 5 nicht überschreiten.

Die Alternativen

In den etwas mehr als 20 Jahren seit Veröffentlichung der Rule of Five hat sie sich als sehr nützlich erwiesen. Aber es gab auch Kritik, und Verbesserungsvorschläge. Ich möchte auf die Erweiterungen der Rule of Five gar nicht genauer eingehen. Die Grenzwerte werden präzisiert und es geht außerdem um Faktoren wie die Anzahl drehbarer Bindungen oder die Größe der polaren Oberfläche.

Da die Rule of Five nicht als in Stein gemeißelte Regel, sondern eher als grobe Richtlinie zu verstehen ist, gibt es natürlich auch diverse Arzneistoffe, die gegen sie verstoßen, und trotzdem sehr gut funktionieren. Wie kann das sein?

Die offensichtliche Antwort auf diese Frage sind alternative Wege, die Schleimhäute des Verdauungstrakts zu überwinden. Denn schließlich ist der Verdauungstrakt dazu da, Nährstoffe aufzunehmen, und die halten sich auch nicht alle an die Rule of Five. Daher gibt es Transportproteine in den Zellmembranen, die die Aufnahme dieser Nährstoffe ermöglichen, und das können manche Arzneistoffe ausnutzen. Sie sind ebenfalls Substrate dieser Transporter und können daher resorbiert werden, ohne tatsächlich die Phospholipid-Doppelschicht der Zellmembran zu überwinden. Einige häufig benutzte Arzneistoffe sind gute Beispiele dafür: L-Dopa (bei Parkinson), Metformin (bei Diabetes) oder Simvastatin (zur Senkung des Cholesterinspiegels).

Außer der Aufnahme über Transportproteine gibt es auch noch die Möglichkeit, dass Arzneistoffe sich quasi zwischen zwei Zellen hindurch schleichen – das nennt man dann parazelluläre Resorption. So müssen sie die Membran auch nicht überwinden, allerdings ist das nur für kleine Moleküle möglich und auch nicht in allen Bereichen des Körpers.

Regelbrecher

In einem Paper von 2016 haben die Autor:innen die Resorption von Stoffen untersucht, die gegen die Rule of Five verstoßen. Dazu verwendeten sie ein Modellsystem aus Liposomen – im Prinzip kleine Kugeln aus einer oder mehreren Phospholipid-Membranen, ähnlich der Zellmembran – um die Permeation der Stoffe durch eine Membran zu betrachten. Und tatsächlich konnten die beiden Arzneistoffe Tetrazyklin und Rifampicin, die ziemlich heftig gegen die Rule of Five verstoßen, die Membranen überwinden (und zwar rein durch passive Diffusion und nicht durch andere Transportmechanismen).

Die Autor:innen haben einige Faktoren ausmachen können, wie solche „Regelbrecher“ trotzdem oral resorbiert werden können.

Struktur von Tetrazyklin

Tetrazyklin besitzt mehr Wasserstoffbrücken-Donatoren als „erlaubt“. Diese können aber intramolekulare Wasserstoffbrücken bilden, also mit Wasserstoffbrücken-Akzeptoren im gleichen Molekül. Damit sind diese abgesättigt und „zählen nicht mehr“ für die Membran-Permeation. Außerdem hat auch die Form eines Arzneistoffs einen Einfluss auf die Fähigkeit, Membranen überwinden zu können. Tetrazyklin ist lang und schmal und könnte daher mit weniger sterischer Hinderung durch eine Membran diffundieren können – das heißt, es braucht einfach weniger Platz und kann sich deshalb besser durch die dicht gepackte Membran bewegen.

Ein großes Thema ist auch die Ladung eines Arzneistoffes, über das ich bisher aber noch nicht geschrieben habe, daher werde ich es nur kurz anreißen. Ist ein Molekül geladen, ist es dadurch automatisch sehr viel weniger lipophil und kann Membranen deutlich schlechter überwinden. Wenn im selben Molekül aber eine positive und eine negative Ladung vorkommen – so wie bei Tetrazyklin bei physiologischem pH – gleichen diese sich aus. Dadurch ist das Molekül in Summe wieder ungeladen und kann durch die Membran gelangen.

Stoffe im drug-like space

Sind solche Moleküle also die Ausnahme, die die Regel bestätigen? Nicht ganz. Denn tatsächlich hätte die Rule of Five eine ordentliche Generalüberholung nötig. Auch wenn sie Pionierarbeit geleistet hat, physikochemische und klinische Eigenschaften von Arzneistoffen miteinander zu verknüpfen, könnte das strikte Beharren auf diese Regeln in Zukunft eher schaden als nutzen.

Michael D. Schultz hat in einem Artikel von 2018 einen genauen Blick auf das Vermächtnis der Rule of Five geworfen. Denn die Regeln wurden mit Blick auf die Arzneistoffe vor 1997 aufgestellt. Schultz schreibt:

 „A property that is truly related to the probability of achieving solubility and oral exposure must be static and not change faster than the evolution of the organism to which it is targeted. Any rule based on a time-dependent value cannot predict the future […].”

Und wenn man die Eigenschaften der Arzneistoffe betrachtet, die seit 1998 von der FDA – der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde – zugelassen wurden, dann fallen tatsächlich einige Abweichungen von der Rule of Five auf.

Außer der Zahl an Wasserstoffbrücken-Donatoren haben sich alle anderen Eigenschaften im Vergleich zu der Zeit vor 1997 statistisch signifikant verändert. Besonders dramatisch ist diese Veränderung bei der Molekülmasse. Seit 1998 wurden deutlich mehr Arzneistoffe zugelassen als in dem gleichen Zeitraum zuvor, und dieser Anstieg ist zu einem großen Teil auf Arzneistoffe mit einer relativen Molekülmasse über 500 zurückzuführen. 2016 und 2017 war die durchschnittliche Molekülmasse der zugelassenen Arzneistoffe sogar größer als 500, der Grenze der Rule of Five.

Von der FDA zugelassene Arzneistoffe nach Zeitraum. Stoffe mit einer Molekülmasse unter 500 sind blau und über 500 sind rot (Bild: Schultz, 2018, 10.1021/acs.jmedchem.8b00686

Die Rule of Five, und besonders der Grenzwert für die Molekülmasse, konnte also die zukünftige Entwicklung von Arzneistoffen nicht vorhersagen.

Welche Konsequenzen könnte das haben? Nun, dafür müssen wir kurz über den drug-like space sprechen. Stellt euch einen Raum vor, der angefüllt ist mit allen möglichen Molekülen, die existieren können. Um neue (oral anwendbare) Arzneistoffe zu finden, muss dieser Raum, der chemical space abgesucht werden. Der chemical space ist aber viel zu groß, deshalb muss die Auswahl irgendwie eingeengt werden, auf Moleküle, die mit einer einigermaßen hohen Wahrscheinlichkeit oral bioverfügbar sein könnten. Das kann man dann als drug-like space bezeichnen (tatsächlich steht aber Schultz beispielsweise dem Begriff drug-like eher skeptisch gegenüber).

Wenn jetzt die Rule of Five maßgeblich ist um festzustellen, welche Stoffe in diesem drug-like space liegen, und die Rule of Five diese Eigenschaft aber zumindest nicht zuverlässig vorhersagen kann, dann bleiben möglicherweise viele potentielle Arzneistoffe unbeachtet. Gerade in einer Zeit, in der auch viele neue Arten von Arzneistoffen in den Vordergrund rücken, könnte es daher eher schädlich sein, zu sehr auf die Rule of Five zu beharren.

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