Wie Riesenviren die Grenze zwischen Leben und Nicht-Leben in Frage stellen

Riesenviren sind die Giganten der Viruswelt – und das nicht nur in Bezug auf ihre schiere physische Größe. Mit Eigenschaften, die typischen Viren fremd und eigentlich Lebewesen vorbehalten sind, stellen sie die klassischen Definitionen von Viren infrage.

Viren und das Nicht-Leben

Wenn wir uns die Größenverhältnisse des Mikrokosmos ansehen, dann gehören die Viren definitiv zu den kleinsten Kreaturen, die wir dort finden können. „Typische“ Viren sind deutlich kleiner als beispielsweise Bakterien. Und auch das Genom von Viren ist im Vergleich winzig – sie besitzen also nur sehr wenige Gene.

Allerdings brauchen Viren auch viel weniger Gene. Sie vermehren sich nämlich parasitisch innerhalb einer Wirtszelle, und nutzen dafür auch den Stoffwechsel der befallenen Zelle. All jene Aufgaben, die zum Aufbau neuer Viren benötigt werden, vor allem die Replikation der viralen Erbinformation und die Herstellung der viralen Proteine, werden von der Wirtszelle ausgeführt. Das Virus steuert quasi nur den Bauplan bei, während die Energie, Bausteine und Werkzeuge von der Wirtszelle bereitgestellt werden. Daher haben Viren keinen Bedarf für einen eigenen Stoffwechsel.

Aus diesem Grund werden Viren generell nicht als lebendig angesehen. Sie besitzen zwar einige Merkmale des Lebens, aber die Abwesenheit von eigenständiger Replikation und eines Stoffwechsels sind ziemliche Ausschlusskriterien.

Riesenviren: Giganten der Viruswelt

Seit etwa zwanzig Jahren wächst allerdings unser Wissen um Viren, die an dieser Grenze zwischen Leben und Nicht-Leben kratzen. Sie werden oft als Riesenviren bezeichnet, aufgrund ihrer wirklich enormen Größe – auf den Virus-Maßstab bezogen.

Diese Riesenviren gehören zum Phylum der Nucleocytoviricota, ohne allerdings weiter auf die Taxonomie der Viren eingehen zu wollen. Sie besitzen, wie Lebewesen auch, ein Erbgut in Form von doppelsträngiger DNA und können vorher ungeahnte Größen erreichen. Mit über 2 Mikrometern sind manche von ihnen sogar größer als einige Bakterien.

Wenn wir über die Größe von Viren sprechen, dann meinen wir die sogenannten Virionen. Das sind die Viruspartikel, die sich  außerhalb der Wirtszelle befinden und in die das Erbgut verpackt ist. Infiziert ein Virus eine Zelle, wird das Erbgut aus dem Virion in das Innere der Zelle freigesetzt. Das Virus existiert in der Zelle also nicht mehr als ein zusammenhängendes Partikel sondern als mehr oder weniger freie Erbgut-Moleküle.

Aber nicht nur physisch sind diese Viren Riesen. Sie haben ein sehr großes Genom, viele Male größer als das von typischen Viren. Und sie besitzen oft Gene, die eigentlich exklusiv in zellulären Lebensformen vorkommen und in Viren überhaupt nicht zu erwarten wären.

Struktur eines Cafeteria-roenbergensis-Virus (Cryo-EM Rekonstruktion des Capsids, EMD-8748)

Merkmale zellulären Lebens

Die ersten Riesenviren wurden tatsächlich schon im neunzehnten Jahrhundert entdeckt – die Pockenviren, die aufgrund ihrer Größe auch mit der damaligen Technik in einem normalen Lichtmikroskop sichtbar waren. Bis klar wurde, dass es allerdings noch sehr viele weitere Riesenviren gibt, die noch größer sind und noch komplexere Genome besitzen, hat es allerdings bis in die 1990er Jahre gedauert.

2003 wurde dann das Mimivirus entdeckt, das zuerst für ein Bakterium gehalten wurde. Daher auch der Name: microbe-mimicking virus. Es markierte einen weiteren Meilenstein im Verständnis der Riesenviren, denn es besaß als erstes entdecktes Virus Gene der Protein-Biosynthese, die bis dahin nur aus echten Lebewesen bekannt waren.

Elektronenmikroskopische Aufnahme eines Mimivirus (Ghigo et al. 10.1371/journal.ppat.1000087)

Zu diesen unerwarteten Genen, die eigentlich Merkmale echten Lebens sind, gehören z.B. Gene für tRNAs. Die kleinen RNA-Moleküle sind unabdingbar zur Herstellung von neuen Proteinen. Um arbeiten zu können, müssen tRNAs mit Aminosäuren, den Bausteinen der Proteine beladen werden. Das übernehmen bestimmte Enzyme (die Aminoacyl-tRNA-Synthetasen), und auch diese sind im Genom mancher Riesenviren codiert. Die Klosneuviren besitzen beispielsweise ein fast komplettes Set, um die meisten Aminosäuren in Proteine einbauen zu können.

Neben diesen Genen nötig zur Protein-Biosynthese weisen Riesenviren auch weitere Stoffwechsel-Gene und speziell Gene des Energiestoffwechsels auf, die sonst nur in Lebewesen vorkommen. Manche der Viren besitzen auch Histone – das sind Proteine zur Organisation des Erbguts, auf die ein DNA-Strang wie in einer Perlenkette aufgewickelt ist. Lange wurde angenommen, dass nur Lebewesen mit Zellkern, die Eukaryoten, und Archaeen solche Histone besitzen. Später wurden allerdings auch Histon-ähnliche Proteine bei Bakterien gefunden, und schließlich auch in Riesenviren.

Rätselhafte Evolution der Riesenviren

Dass Riesenviren so viele Markenzeichen zellulären Lebens besitzen, war völlig unerwartet und es ist bis heute noch nicht vollständig geklärt, wie es dazu kommt. Viele dieser Gene sind sehr alt, weshalb anfangs die Hypothese im Raum stand, bei den Riesenviren könnte es sich neben den Bakterien, Archaeen und Eukaryoten um eine bis dato unentdeckte vierte Domäne des Lebens handeln.

Allerdings sind die meisten dieser Gene eukaryotischen Ursprungs. Die Riesenviren haben sie also in der Vergangenheit von bisher unbekannten Wirtszellen erworben. Diesen Prozess, die Übertragung von Genen zwischen zwei Organismen – das Wort Organismen ist in Bezug auf Viren allerdings mit Vorsicht zu genießen – wird als horizontaler Gentransfer bezeichnet und spielt in der Evolution eine wichtige Rolle.

Riesenviren könnten sich also durch die Übernahme von Genen ihrer Wirte aus kleineren Viren entwickelt haben. Aber auch andersrum ist ein Gentransfer möglich: Es ist durchaus plausibel, dass Stoffwechselgene von Eukaryoten (zu denen auch wir Menschen gehören) ursprünglich aus Riesenviren kamen und diese damit eine wichtige Rolle in der Evolution eukaryotischer Zellen spielten.

Verborgenes Reservoir für Antibiotika-Resistenzen

Obwohl praktisch alle eukaryotischen Abstammungslinien von Riesenviren infiziert werden können, bezieht sich unser Wissen bisher vor allem auf Viren, die einige wenige Wirte befallen. Denn die Riesenviren müssen zusammen mit ihren Wirten kultiviert werden, und aus der wahrscheinlich enormen Anzahl an Riesenviren sind vor allem jene erforscht, deren Wirte die dazu verwendeten Modellorganismen sind.

Allerdings bietet die Metagenomik die Möglichkeit, Riesenviren auch unabhängig von ihren Wirten zu untersuchen. Dazu werden genetische Proben direkt aus der Umwelt isoliert und untersucht.

Gemeinsam haben Kultivierung und Metagenomik dazu geführt, dass sich unser Wissen über Riesenviren in den letzten Jahren vervielfacht hat. Einen spannenden Aspekt, der dabei herausgefunden wurde, zeigt ein Paper aus diesem Jahr.

Riesenviren dienen als ein Reservoir für Antibiotikaresistenz-Gene. Tatsächlich tragen über ein Drittel der untersuchten Riesenviren solche Gene in ihrer Erbinformation, und damit fast so viele wie bei den Bakterien. Ist eine Wirtszelle sowohl von einem Riesenvirus als auch von einem anderen intrazellulären Erreger, z.B. einem Bakterium infiziert, können die Antibiotika-Resistenzen wiederum über einen horizontalen Gentransfer auf die Bakterien übergehen. Damit verdienen die Riesenviren definitiv Beachtung, wenn es um das wachsende Problem Antibiotika-resistenter Bakterien geht.

Riesenviren sind eine faszinierende Besonderheit in der Welt der Viren. Ihre enorme Größe und ihr komplexes Genom stellen die klassischen Definitionen von Viren infrage. Mit Genen, die für Stoffwechsel und Proteinbiosynthese benötigt werden, besitzen sie Markenzeichen des Lebens, die sonst nur zellulären Organismen vorbehalten sind. Ihre Erforschung hat nicht nur unser Verständnis von Viren erweitert, sondern auch neue Einblicke in die Evolution und mögliche Wechselwirkungen zwischen Viren, Wirten und anderen Organismen geliefert. Und sie erinnern uns daran, dass Leben und Nicht-Leben menschengemachte Kategorien sind, und in der Natur keine klar definierte Grenze zwischen ihnen existiert.


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