Man hört ja oft (vor allem in der Werbung für die entsprechenden Präparate), pflanzliche Arzneimittel seien besonders schonend und nebenwirkungsarm. Sie kämen schließlich direkt aus der Natur, und etwas natürliches müsse ja verträglicher sein als das chemisch hergestellt Pendant. Aber zu erkennen, dass es sich dabei – zumindest, wenn man es so allgemein formuliert – um Quatsch handelt, ist nicht weiter schwer. Man muss nur mal rausgehen, in die Natur, und die Augen offen halten. Dann sieht man sie: Eisenhut, Gefleckter Schierling, Herbstzeitlose, Fingerhut, Hundspetersilie. Alles komplett natürlich, alles potentiell tödlich. Und allein in dieser sehr unvollständigen Liste sind zwei Pflanzen, deren Inhaltsstoffe in Arzneimitteln verwendet werden: Digoxin und Digitoxin aus dem Wolligen Fingerhut (Digitalis lanata) und Colchicin aus der Herbstzeitlosen (Colchicum autumnale). Denn gerade die giftigen Inhaltsstoffe sind es manchmal, die sich als Arzneistoff eignen.
Diesen Beitrag möchte ich deshalb den pflanzlichen Zytostatika widmen. Pflanzlichen Zellgiften also, die es geschafft haben, wegen genau dieser Eigenschaft als Arzneistoffe eingesetzt zu werden.
Welche Zytostatika aus Pflanzen stammen
Im Prinzip existieren vier Substanzgruppen, die tatsächlich auch klinisch relevant sind. Das sind:
- die Taxane aus der Pazifischen Eibe.
- Die Vinca-Alkaloide, die aus dem Madagaskar-Immergrün stammen.
- Die Derivate des Podophyllotoxin aus dem Schildförmigen Fußblatt.
- Und schließlich noch die Derivate des Camptothecin, das im Chinesischen Glücksbaum vorkommt.
Diese vier Stoffgruppen werden im klinischen Alltag eingesetzt, um Krebserkrankungen zu behandeln. Zugegebenermaßen sind nicht alle Stoffe, die verwendet werden, auch natürliche Pflanzeninhaltsstoffe. Denn es gibt von allen sogenannte halbsynthetische Derivate. Das sind Wirkstoffe, die auf dem natürlich vorkommenden Stoff beruhen, aber chemisch so verändert wurden, dass sie bestimmte Eigenschaften aufweisen. Trotz dieser „verbesserten“ Versionen sind aber auch die echten Pflanzeninhaltsstoffe weiterhin in Verwendung.
Und wo wir gerade beim Stichwort Verwendung sind, möchte ich nachfolgend ein paar Beispiele geben, wie die verschiedenen pflanzlichen Zytostatika eingesetzt werden.
Paclitaxel (auch Taxol genannt) gehört zu den Taxanen und wird unter anderem bei Brustkrebs oder nicht-kleinzelligem Bronchialkarzinom (einer häufigen Form des Lungenkrebs) verwendet. Vincristin, ein Vinca-Alkaloid, wird bei einer Vielzahl von Tumoren eingesetzt, zum Beispiel bei akuter Leukämie oder Non-Hodgkin-Lymphomen (eine Krebserkrankung bestimmter Immunzellen). Und zum Abschluss noch das Podophyllotoxin-Derivat Etoposid, das ebenfalls bei Bronchialkarzinomen oder Lymphomen eingesetzt werden kann.
Wer aufmerksam gelesen hat, wird bemerkt haben, dass ich nur für drei der vier Stoffgruppen Beispiele genannt habe. Das liegt daran, dass es kein rein natürliches Camptothecin-Derivat gibt, das als Arzneistoff zugelassen ist. Die halbsynthetische Variante Topotecan wird aber beispielsweise bei Ovarialkarzinomen (Tumoren der Eierstöcke) eingesetzt.
Wie immer gilt hier: in den allermeisten Fällen werden Krebserkrankungen mit einer Kombination von mehreren Arzneimitteln therapiert. Auch die pflanzlichen Stoffe werden nicht für sich allein verwendet, sondern sind Teil eines komplizierten Therapieschemas.
Leider würde dieser Beitrag sehr lang werden, wenn ich ausführlicher auf alle diese Stoffe eingehen würde (auch wenn alle davon spannend genug wären). Deshalb habe ich Paclitaxel ausgewählt, um ein bisschen tiefer in das Thema einzutauchen.
Wo Paclitaxel herkommt
Wie schon gesagt stammt Paclitaxel aus der Pazifischen Eibe, deren lateinischer Name Taxus brevifolia ist. Die Pazifische Eibe ist wächst in Nordamerika, und zwar (wie der Name schon verrät) an der Pazifikküste im westlichen Teil des Kontinents. Am meisten Paclitaxel befindet sich in der Rinde des Baumes, die übrigens eine sehr auffällige rote Farbe hat.
Andere Eibenarten stellen kein Paclitaxel her. Allerdings ist es nicht der einzige Giftstoff aus der Klasse der Taxane, daher sind die anderen Eibenarten auch ohne es hoch giftig. Der einzige Teil der Eibe, der theoretisch genießbar ist, ist der rote Samenmantel. Allerdings sollte man auch diesen auf keinen Fall essen, denn der Samen selbst ist wieder giftig. Und auch wenn man auf die Idee kommen sollte, den Samen vorher zu entfernen, können schon kleine Reste davon für eine schwere Vergiftung ausreichen.
Wie Paclitaxel wirkt
Es gibt in Zellen Moleküle, die (ein bisschen vereinfacht gesagt) Zeug von einem Ort zum anderen bewegen können, und der Zelle außerdem Stabilität verleihen. Eine Art dieser Moleküle sind die Mikrotubuli, die lange röhrenförmige Strukturen bilden, die sich durch die gesamte Zelle erstrecken können. Und unter anderem ist das „Zeug“, das die Mikrotubuli transportieren, die DNA während eine Zelle sich teilt.
Mikrotubuli sind extrem dynamische Strukturen. Sie bestehen aus kleineren Einheiten, dem Tubulin, und werden ständig auf- und wieder abgebaut, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. Paclitaxel kann an das Tubulin binden und stabilisiert die Mikrotubuli dadurch. Der Abbau der Mikrotubuli-Röhren wird gestört, und damit können die Mikrotubuli ihren Transport-Aufgaben nicht mehr nachkommen.
Wenn man jetzt weiß, dass sich Tumorzellen sehr schnell teilen, viel schneller als die meisten anderen Zellen, und dass Mikrotubuli bei der Zellteilung zum Transport der DNA benötigt werden, lässt sich erahnen, wieso Paclitaxel zur Behandlung von Tumorerkrankungen eingesetzt wird. Aber auch Zellen, die sich gerade nicht teilen, sind von der Paclitaxel-Wirkung betroffen, weil die Mikrotubuli sehr viele unterschiedliche Aufgaben haben.
Wie Paclitaxel hergestellt wird
Wenn man Paclitaxel gewinnen möchte, dann könnte man natürlich die Arbeit der Pazifischen Eibe überlassen, die es ja sowieso herstellt, und den Stoff einfach aus dem Baum (v.a. aus der Rinde) isolieren. Leider wäre das aber furchtbar ineffizient, da die Pazifische Eibe einer der am langsamsten wachsenden Bäume überhaupt ist.
Die geradlinigste Alternative ist es daher, einfach statt des gesamten Baumes nur kultivierte Pflanzenzellen zu verwenden, mit denen man Paclitaxel im Fermenter (also einem Bioreaktor) herstellen kann. Die zweite Möglichkeit ist, Paclitaxel semisynthetisch herzustellen. Dazu nimmt man einen Vorläuferstoff, der schon relativ nahe am fertigen Paclitaxel ist. Dieser Stoff (10-Deacetylbaccatin) wird nämlich auch von der Europäischen Eibe gebildet, die deutlich schneller wächst. Und aus dem isolierten 10-Deacetylbaccatin kann dann relativ einfach mit chemischen Methoden Paclitaxel hergestellt werden.
Nur der Vollständigkeit halber möchte ich auch noch eine dritte Möglichkeit erwähnen. Denn nicht nur die Pazifische Eibe bildet Paclitaxel, sondern auch ein Pilz, der in der Pazifischen Eibe lebt. Daher kann man auch aus dem Pilz Paclitaxel gewinnen.
Welche Nebenwirkungen Paclitaxel hat
Mir ist es wichtig zu betonen, dass Paclitaxel im Grunde ein Zytostatikum wie jedes andere ist. Es spielt keine Rolle, ob es ursprünglich aus einer Pflanze, einem Tier oder einem Bakterium stammt, oder ob es rein synthetisch gewonnen wurde. Zytostatika sind Zellgifte, die Aufgrund dieser Wirkung eingesetzt werden, um Krebszellen zu töten. Und dementsprechend hat auch Paclitaxel wie alle anderen Zytostatika nicht zu vernachlässigende Nebenwirkungen.
Es führt zu einer Suppression des Knochenmarks, und dadurch zu einer verminderten Bildung von allen möglichen Blutzellen. Es kann zu Neuropathien, also Nervenschäden kommen, die sich zum Beispiel durch Missempfindungen äußern. Außerdem können Haarausfall, Schleimhautentzündungen, Übelkeit und allergische Reaktionen auftreten.
Aber wie bei allen anderen Zytostatika auch ist der Einsatz von Paclitaxel eine Abwägung der Nebenwirkungen gegen die vielen Leben, die durch die Behandlung gerettet werden können. Und da muss klar gesagt werden: es lohnt sich.
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